Schon vor Jahrzehnten erkundete er die Überblendung afroamerikanischer und deutscher Erinnerungen. Marcel Odenbach, Kölner Pionier der Videokunst, wird siebzig Jahre alt.
Von PATRICK BAHNERS
Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.07.2023 https://www.faz.net/-gsa-bbkj6
Keine Touristenflut ergießt sich in den majestätischen Hohlraum. Die Schaulust türmt sich nicht in gewaltigen Wellen auf, um dann alle Neugier unter sich zu begraben. Nur drei Personen spazieren in der Morgensonne in den langen großen Saal des Louvre, den Kaiser Napoleon III. rot ausschlagen ließ. Sie passieren ein Idealporträt der gepanzerten Jungfrau von Orléans und eine Kreuzigung mit wild aufgebäumtem nacktem Erlöserleib am Stamm, die zu beiden Seiten des Torbogens aufgehängt sind, zwei Ikonen der französischen Nationalkultur in christlicher Selbstdarstellung, der heroischen Tugenden des Duldens und Hoffens, des Präparierens und Aushaltens.
An der Hautfarbe der drei Besucher sieht man, dass sie oder ihre Vorfahren aus Afrika stammen. Einer der drei trägt auch ein passendes Gewand in bunten Streifen. Vielleicht sind sie zum ersten Mal in einem Museum. Ihrem Verhalten könnte man das allerdings nicht ablesen. Sie betreten den Saal in gemessenem Schritt, blicken sich um, nehmen alles auf und nehmen dann auf einer der bereitstehenden Bänke Platz, jeder für sich.
So nah kann man herantreten
Vielleicht, so kann sich der Betrachter von Marcel Odenbachs achtminütigem Video „Im Schiffbruch nicht schwimmen können“ aus dem Jahr 2011 einbilden, werden die weltberühmten Historiengemälde von Eugène Delacroix, das Massaker von Chios und die Freiheit auf den Barrikaden, hier überhaupt
zum ersten Mal in Augenschein genommen, vielleicht wollte Odenbach ausmalen, wie es aussähe, wenn der Louvre erst heute Eröffnung feierte. Auf den zweiten Blick fällt einem etwas auf, das man von jedem Museumsbesuch kennt: die Seile, die einen Minimalabstand zwischen Kunstwerken und Betrachtern konservieren. Geradezu putzig nimmt sich diese mobile Reling jetzt aus, da im Riesenraum keine Besuchermassen gebändigt werden müssen. So nah kann man also an die Bilder herantreten!
Die Blicke der Flaneure bleiben hängen am Floß der Medusa von Théodore Géricault. Im zweiten Teil des Videos erfahren wir, dass die drei Afrikaner über das Meer nach Frankreich gekommen sind, Überlebende einer katastrophalen Passage wie der Haufen der leichengleich aufgeschichteten Schicksalsgenossen auf Géricaults Behelfsboot. Wir bekommen Details auf dem Gemälde zu sehen und glauben sie mit den Augen der vor dem Bild sitzenden Männer zu sehen: Da sind auch Schwarze unter den Opfern. Aber wir wissen, dass dieser Glaube, die Illusion der Perspektivverschmelzung und des Identitätstausches, ein Effekt der Kameraführung ist. Für die Flüchtlinge entschlüsselt sich ihre Geschichte nicht als Fortsetzung oder Wiederholung der von Géricault fixierten spektakulären Begebenheit.
Seelenruhig bewegte Bilder
Wir sehen so etwas wie ein Historienbild, aber das Geschehen im Rahmen des Videobildes treibt nicht auf den einen Moment von Rettung oder Tod zu. Im Kontrast zum Schauplatz, aber auch zu längeren Videos Odenbachs ist dieses Passagenwerk eine Miniatur: Auf engem Raum kreuzen sich Perspektiven auf Geschichten, die nicht selbst ins Bild gesetzt werden können. Odenbach bearbeitet den Kanon an den Wänden durch Einziehung von Horizontlinien und legt mit der kompakten Arbeit eine virtuose Studie über den Schnitt vor.
Jahre vor der großen Welle des Mitleids mit den schiffbrüchigen Migranten aus Afrika und dessen Umschlag in Panik fand er diesen Gegenstand, wie er Jahrzehnte vor der ängstlichen, der moralischen Phantasie misstrauenden Debatte über Postkolonialismus und Holocaust Möglichkeiten und Grenzen der Überblendung afroamerikanischer und deutscher Verfolgungserinnerungen erkundete. Die seelenruhig bewegten Bilder waagerechter, grauer Wellen, die Odenbach in die Szenen vom Museumsbesuch hineingeschnitten hat, nahm er von dem Haus auf auf, das er an der Küste von Ghana besitzt.
Der Titel des Louvre-Videos ist die Überschrift eines Kapitels aus Hans Blumenbergs Buch „Die Sorge geht über den Fluss“, einer Betrachtung über eine Stelle aus einem Brief von Friedrich Hebbel an seine Gönnerin Amalie Schoppe aus dem Jahr 1837. Den Schiffbruch verwendet Hebbel dort als Bild für die Existenznot des freien Schriftstellers: „Ich werde, falls ich im Weltmeer untergehen sollte, darin nicht, wie vielleicht früher, einen Privathass des Schicksals gegen mich sehen, sondern bloß den Beweis, dass ich nicht schwimmen konnte“. Mit dem Blumenberg-Verweis blendet Odenbach die Chiffre eines bis zum Äußersten gesteigerten heroischen Individualismus ein, der vorsorglich alle gesellschaftlichen Mächte von Mitschuld am Unglück entlastet. Im Kunst-Kontext des Videos ist eine heitere Lesart dieses anti-fatalistischen Manifests möglich: Wer im Museum nichts versteht und in der Bilderflut untergeht, hat sich das vielleicht selbst zuzuschreiben und sein Sehvermögen nicht trainiert.
Zum geflügelten Wort wurde der Titel von Blumenbergs Buch „Schiffbruch mit Zuschauer“. Dort macht der Philosoph in einem Resümee des Schicksals dieser „Daseinsmetapher“ die Bemerkung, dass die Darstellung eines Schiffbrüchigen, der den Gedanken an ein neues Schiff fasst, „schon den Bildprozess zurückzuspulen scheint“. Die Wortwahl zeigt, wie tief sogar die Vorstellungswelt des gelehrten Höhlenbewohners Blumenberg von Kinobesuchen geprägt war. Marcel Odenbach zeigt manchmal Archivaufnahmen von Filmspulen, weil er die Geschichte in einen Raum jenseits oder diesseits des linearen Erzählens überführt, wo der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, sich erübrigt hat oder noch nicht aufgekommen ist. Der Kölner Pionier der Videokunst, der unserer denkenden Seherfahrung einen Ozean aufgeschlossen hat, wird heute siebzig Jahre alt.
Quelle: F.A.Z.